Ritualtransfer bei marginalisierten religiösen Gruppen in islamischen Gesellschaften des Vorderen Orients und in der Diaspora

Das Projekt erforscht Ritual-(Re-)Konstruktionen und -Innovationen bei Aleviten und Jesiden im Kontext translokaler, transregionaler und transnationaler Migration und die damit verbundenen Prozesse des Ritualtransfers und der Rezeption. In Hinblick auf sich wandelnde oder neu entstehende Rituale werden die jeweiligen Ritualtraditionen und ihre Umfelder auf breiter Quellenbasis auch einer syn- und diachronen Analyse unterzogen. Hierbei werden einerseits die 'Agency'-Träger(gruppen) und deren diskursiv und performativ "vorgelebte Reflexivität" untersucht. Andererseits erfolgt die Dokumentation indigener, oftmals legitimatorischer und identitätsbildender Prozesse der Erschließung, Kanonisierung und Standardisierung von Ritualbausteinen und Ritualkomplexen. Diese, meist im Zuge von Institutionalisierungen ablaufenden Prozesse stehen auch aufgrund ihrer Wechselwirkungen mit der Wissenschaft im Blickpunkt der Projektarbeit. Im Falle der Aleviten erstreckt sich das Untersuchungsgebiet auf die heutige Republik Türkei im sowohl ländlichen als auch städtischen Raum, bulgarische, syrische und irakische Gebiete in der Grenzregion zur Türkei und Diasporazentren in Deutschland, wie beispielsweise Berlin oder Stuttgart; im Falle der Jesiden Nordirak, Südosttürkei sowie Armenien und Deutschland.

Ritualtransfer- und Rezeptionsprozesse:

Bei der Untersuchung von Ritualtransfer- und Rezeptionsprozessen werden v. a. folgende Aspekte in den Blick genommen: 1) Der gruppeninterne, aber auch über die Gruppengrenzen hinweg stattfindende Wissenstransfer und 2) die Form und Kombination der Tradierungsprozesse (oral, schriftlich, mimetisch-performativ). Hinzu kommen 3) die Auswirkungen dieser Transfer- und Tradierungsprozesse kulturellen Wissens auf Ritualkomplexe sowie die Instrumentalisierung der genannten Prozesse im Rahmen sozialer Dynamik. Des Weiteren gehören hierher 4) die Aushandlung von Machtstrukturen, speziell ritualbezogener "Handlungsmacht" ('Agency') und die Zuweisung dieser an unterschiedliche, historisch fassbare Einzelakteure bzw. Akteursgruppen. Schließlich sind zu nennen: 5) die reflexiven Dimensionen solcher kognitionstechnisch-sozialisierender Abläufe.

Erforschung der "Ritualgeschichte":

Gruppeninterne wie auch gruppenübergreifende Rezeptionsprozesse sollen im Sinne einer 'longue durée' nachvollzogen werden können, um somit einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Religionsgeschichte des Vorderen Orients im Allgemeinen sowie zur "Ritualgeschichte" Anatoliens im Speziellen zu leisten. Vom Beginn schriftlicher Überlieferung im islamischen Anatolien bis in die Gegenwart werden folgende drei Phasen untersucht:

  1. vom ausgehenden Mittelalter bis zur ersten Modernisierungsphase des 19. Jh.
  2. vom späten Osmanischen Reich Ende des 19. / Anfang des 20. Jh., über die nachfolgende Phase der Nationalstaaten, bis in die frühen 1990er Jahre
  3. die "Postmoderne"

Methodenkombination:

Quellen- und Datengrundlage bieten u. a.:

  • Ein Sample einflussreicher Akteuren der letzten fünfzig Jahre ("Geistliche", Funktionäre, Intellektuelle): biografische Interviews, Autobiografien u. ä. Selbstzeugnisse sowie eigene Feldforschungsnotizen.
  • 'Oral History'-Datenerhebung.
  • Gruppenintern verfasste individuelle, handschriftliche Aufzeichnungen ("Verschriftlichungen" und Abschriften) aus Privatbesitz oder staatlichen Archiven. Hierzu auch siehe Alevitische Handschriften.
  • Medialisierte Performanzen (Radio, Fernsehen; insbesondere Internet-Portale wie YouTube).
  • Moderne Diskurse: Druckwerke, Radio- und Fernsehprogramme, Internetquellen.

Daneben wird das Projekt in der nunmehr dritten Phase die Einbeziehung erst jüngst erschlossener historischer Handschriften aus dem alevitischen Kontext in das untersuchte Quellenmaterial forcieren und außerdem den Versuch unternehmen, anhand eines alevitischen Dorfes in Südwestanatolien und der zugehörigen Migrantengruppen in der Türkei und in Deutschland die Tradierung ritueller Praxis fallbeispielhaft nachzuzeichnen. Hierbei kommt die innovative Methodenkombination des Projektes zum Tragen: ethnografische und schriftquellenbasierte Forschung gewährleistet die wechselseitige Kontextualisierung historischer und rezenter Daten.

Schwerpunkte:

  • Ritualtransfer (syn- und diachrone Untersuchung der Ritualtraditionen)
  • Ritualtradierung und -rezeption (Analyse der Vermittlung von rituellem Wissen)
  • Ritualgrammatik (Analyse historischer und rezenter Ritualbeschreibungen bzw. -dokumentationen)
  • Reflexivität (teilnehmende Beobachtung bei Ritualperformanzen; Vergleich mit indigenen Quellen und Diskursen zu den Ritualen; Analyse der Rolle der Wissenschaft)
Zuletzt bearbeitet von: E-Mail
Letzte Änderung: 06.03.2024
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